Einerseits ist es das Ziel dieses Blogs, Tanguero(a)s ein besseres Verständnis für Musik und Tanz zu vermitteln, andererseits sollte ein Blog auch subjektive und persönliche Informationen geben. Hier also zunächst meine persönlichen Eindrücke. Als ich in den 90ern lernte, dass es den Argentinischen Tango nicht nur in der Theorie gibt und als ich begann Tango-Musik aus Südamerika zu hören, war Juan D´Arienzo einer der ersten Namen die ich lernte. Ich begann mit drei CDs, eine von Osvaldo Fresedo, eine andere von Trio Hugo Diaz und eine CD mit der Filmmusik zu “The Tango Lesson”. Nachdem ich mir den Film mehrfach angesehen hatte und nachdem ich die CD noch öfter abgespielt hatte, wurde mir klar, dass meine Lieblingsmusik unzweifelhaft von Juan D´Arienzo kommen sollte, die Musik von Fresedo hatte ich damals noch nicht verstanden und Trio Diaz empfand ich zwar musikalisch hochinteressant, hatte aber keine Idee wie man das jemals tanzen könnte. Die beiden Lieder die mir hier besonders gut gefielen waren die Aufnahmen zu “El Flete” und “Pensalo bien”. Dies vor allem wegen der Behandlung des Rhythmus in dieser Musik.
Die Definition von Rhythmus ist nicht sehr einfach. Wikipedia beschreibt Rhythmus als “Dauerstruktur von einzelnen Schallereignissen”. “Wie spannungsreich ein Rhythmus empfunden wird, ist stark davon abhängig, in welchem Mischungsverhältnis und in welcher Weise seine Akzente mit dem Grundschlag zusammenfallen oder von ihm abweichen.” Sehr früh habe ich bereits für mich eine Unterscheidung lateinamerikanischer und europäischer Tanzmusik definiert. Während Orchester sich in Europa sehr stark auf spezielle Rhythmusinstrumente wie das Schlagzeug verlassen, ist es m.E. ein Zeichen Lateinamerikanischer Musik, dass alle Instrumentengruppen (häufig gleichberechtigt) zum Rhythmus beitragen. Damit soll natürlich nicht gemeint sein, dass Melodieinstrumente nicht rhythmisch spielen, vielmehr kommt es selten vor, dass z.B. eine Violinengruppe oder das Piano in europäischen Orchestern reine Rhythmusfunktion hat. Das klassische Tangoorchester (Sexteto Tipico) besteht aus einem Block Streicher, einem Block Bandoneones, Bass und Piano. Im Tango ist es durchaus üblich, Aufgaben hier unterschiedlich zu verteilen, d.H. alle Instrumente können Rhythmus oder Melodie spielen.
Spielt man die Töne und Pausen sehr akzentuiert und unabhängig voneinander (musikalisch: staccato), so erhöht sich der Eindruck des Rhythmus. Neben sehr schnellen Passagen, akzentuiertem Spiel und Synkopen ist hier die Musik von Juan D´Arienzo beispielhaft für einen solchen Ansatz.
Alles begann mit einem Musiker von Italienischer Abstammung, geboren im Dezember 1900 in Buenos Aires (Stadtteil Balvanera). Juan D´Arienzo lernte mit 12 Jahren Violine und hatte seinen ersten Auftritt im National Theater in 1919 zusammen mit Angel D´Agostino als Pianist [2] und Ernesto Bianchi am Bandoneon was zur Gründung eines ersten Orchesters führte. D´Agostino verliess dieses und wurde durch Luis Visca ersetzt. Bereits in diesem Zeitraum hatte sich D´Arienzo vom damals vorherrschenden Sound Julio De Caros (Decarismo) stilistisch abgesetzt. Zwischen 1928 und 1929 machte D´Arienzo 44 Aufnahmen für Electra. Der Eigner von Electra Alfredo Amendola war ein Schwager von D´Arienzos Vater der Juan den Start in eine Karriere ermöglichen wollte [8]. Am Bandoneon dabei war u.a. Ciriaco Ortiz und wohl auch Pedro Maffia. Spielte D´Arienzo damals noch eine der drei Violinen sollte sich das in späteren Formationen ändern, hier leitete er das Orchester nur noch als Dirigent [4]. Als Sänger waren Carlos Dante und Francisco Fiorentino mit dabei. Zwischen 1929 und 1935 hat D´Arienzo keine Aufnahmen gemacht, dann wechselte er zu RCA Victor. Mit u.a. Luis Visca und Lidio Fasoli am Klavier wurden einzelne Instrumentalaufnahmen angefertigt. Hierbei trat als Gastmusiker unter anderem Anibal Troilo auf [4]. Ansonsten spielte das Orchester mit drei Bandoneones, drei Violinen, Bass und Klavier im Cabaret Chantecler.
Alles änderte sich später im Jahre 1935, als ein neuer Pianist in das damalige Sextett eintrat [2]. Der Pianist Rodolfo Biagi wechselte vom Orchester Juan Canaro zu D´Arienzo als Viscas Vertrag auslief. Visca, ansonsten kein schlechter Pianist, war häufig krank und da Biagi ebenfalls mit dem Orchester von Juan Canaro im Chantecler spielte sprang er gelegentlich für den erkrankten Visca ein [9]. Visca verliess das Orchester Ende 1935 wegen seines verstorbenen Vaters [10].
Biagi hatte bis dahin in einigen Aufnahmen für Gardel gespielt und danach in den Orchestern Juan Bautista Guido und Juan Canaro [4]. Horacio Salas beschreibt in seinem Buch D´Arienzo als einen um das Jahr 1935 “bisher nur mäßig erfolgreichen Orchesterleiter” [3]. Der Eintritt Rodolfo Biagis machte das Jahr 1935 zu einem Schlüssel für die nun folgende Karriere [2].
Zusammen mit Biagi setzte er dem weicheren, sentimentalen Stil von De Caro einen mehr rhythmisch akzentuierten Stil entgegen. Traditionelle Stücke wurden schneller gespielt mit viel Stakkato, einfachem aber stringentem Rhythmus. Die Musik war gut tanzbar und brachte den ursprünglichen “dos por quattro” (2/4) Takt zurück [2,3]. Typisch für Biagi sind auch die kurzen Klavierfiguren zwischen den musikalischen Phrasen. Dieses so nie dagewesene Spiel brachte Biagi seinen Spitznamen “Manos brujo” (magische Hände) ein. Weitere Elemente die D´Arienzo einführte waren stets die legato gespielten Contrecanti der Violinen, sowie als Abschluss des Stückes typischerweise der Trioteil, bei dem in virtuosen 32stel bis 64stel Passagen zumeist die Bandoneons die rhythmische Komponente noch einmal steigern.
Biagi verliess das Orchester von D´Arienzo im Jahr 1938 um sein eigenes Orchester aufzubauen, es folgten Fulvio Salamanca von 1944 bis 1956 und danach Juan Polito auf der Position des Pianisten, selbst Carlos Di Sarli war für kurze Zeit einer der Pianisten in D´Arienzos Orchester. Unzweifelhaft sind die Pianisten stets das Rückgrat seines Orchesters gewesen. Es wird viel diskutiert, wer nun für die Entwicklung dieses typischen Stils letztendlich verantwortlich war. Es ist wohl davon auszugehen, dass die Hauptaspekte von Biagi stammen, der auch die Arrangements schrieb und der den ultrarhythmischen Stil dann auch später in seinem eigenen Orchester fortführte.
Über den Grund des Ausscheidens von Biagi wird viel diskutiert. Einer der Gründe war wohl die steigende Beliebtheit Biagis als Star des Orchesters, der damit D´Arienzo als Dirigent in den Schatten stellte. Ein Gerücht sagt hier, dass der eigentliche Bruch während eines Abends Mitte 1938 erfolgte als das Orchester “Lagrimas y Sonrisas” spielte und der brillierende Biagi stehende Ovationen erhielt. D´Arienzo soll daraufhin zu Biagi gesagt haben “Ich bin der einzige Star in meinem Orchester und Du bist entlassen !” [6]. Dieses Ende kam plötzlich, aber nicht unerwartet. Es wird auch gemunkelt, dass der Tango “Piensalo bien” (“Überlege (dir) das genau”) , der in ihrer letzten gemeinsamen Aufnahmesitzung am 22.Juni 1938 aufgenommen wurde das nahende Ende ankündigte, zumal dies ein vorher noch nie gespielter Tango war, dessen Text von Freunden D´Arienzos verfasst wurde [6]. In der ersten Sitzung nach dem Ausscheiden Biagis, schon zwei Wochen später mit Polito als neuem Pianisten, nahm D´Arienzo den Titel “Nada mas” mit der Hauptzeile “Ich will nichts mehr, nichts mehr als dass Du mich nicht verlässt”. Ach hier könnte man eine musikalische Botschaft sehen [6]. Biagi brauchte verständlicherweise etwas länger, da er ein komplettes Orchester besetzen musste. Er schaffte das in nur 2 Monaten.
D´Arienzo spielte immer für die Tänzer, die ihn auch letztendlich reich gemacht haben. Die Musik wird von Tangokennern entweder geschätzt oder verachtet, ist aber in jedem Fall faszinierend, weil der Rhythmus Tänzern jeglicher Leistungsstufe sofort ins Blut geht. In seiner Biografie schreibt Jose Gabello dass D´Arienzo den Tango den Tänzern zurückgegeben hat und (José Luis Macaggi zitierend) dass er damit die Cuarentas erst ermöglicht hat [2]. Nichtsdestotrotz ist D´Arienzo in der Gunst der Tänzer gesunken nachdem Biagi sein Orchester verlassen hatte. Negativ wurde auch gesehen, dass D´Arienzo freundlich formuliert politisch sehr neutral war, manche sagen ihm auch nach, dass er dem herrschenden Regime stets sehr nahestand. D´Arienzo gibt hier selbst zu, ein persönlicher Freund von General Peron gewesen zu sein [10]. Tango-Liebhaber haben ihm auch seine Versuche übelgenommen, einen Tango für den Export zu kreieren [12].
D´Arienzo hat mit vielen verschiedenen Sängern zusammengearbeitet. Hierbei hat D´Arienzo während des überwiegenden Teils seiner Karriere stets das Primat des Orchesters betont und den Sängern als Estribillistas und Cantores de Orquesta nur eine untergeordnete Rolle zugestanden. Lediglich während seiner letzten aktiven Jahre hat er diese Einstellung fallenlassen und die Sänger in bedeutenderer Position anerkannt. Zu seinen bekanntesten Sängern zählen unter anderem Alberto Echagüe, Hector Maure, Mario Bustos und Jorge Valdez. Hierbei wurde in vielen Fällen selbst der Gesang für eine rhytmische Komponente verwendet. Eine komplette Liste der Sänger findet man unter anderem auf der Seite von Gregory Diaz [4], ebenso dort ist eine Discografie der Werke Juan D´Arienzos abrufbar, bei welcher man die Stücke sogar (für die ersten paar Sekunden) kurz anhören kann [7].
Juan D´Arienzo verstarb in Buenos Aires am 14. Januar 1976, seine Grabstätte liegt auf dem Friedhof von Chacarita. Noch vor seinem Tode wurde das Orchester mit dem Namen Juan D´Arienzo als Marke unter dem Namen Los Solistas de Juan D´Arienzo weitergeführt [8].
Sehr konservative DJs (vor allem in Buenos Aires) spielen von D´Arienzo im wesentlichen die Stücke, bei denen Biagi am Klavier sitzt [12]. Ich persönlich möchte das nicht kommentieren, ebensowenig die Ansichten, dass D´Arienzo, der weder im Orchester spielte, noch die Arrangements seiner Stücke schrieb, ein völlig überbewerteter Künstler ist (um das einmal freundlich zu formulieren), dessen Stücke die Rafinesse der damaligen Stile nicht wiederspiegelten. D´Arienzo war ohne Zweifel ein überragender Orchesterleiter und ohne die Zusammenarbeit mit Biagi hätten die Cuarentas ganz anders ausgesehen, denn viele der bestehenden grossen Orchester hatten sich mehr oder weniger seinem rhythmischen Stil und dem gesteigerten Tempo angepasst.
Juan D´Arienzo hinterlässt eine Vielzahl von Aufnahmen. Tango.info listet 4540 Tangos, 550 Milongas und 454 Valses auf [11]. 46 Kompositionen, 3 Texte und geschätzt 1119 Auftritte. Hier ist eine Schätzung schwierig, da D´Arienzo teilweise bis zu 4 Orchester dirigierte [12]. Es wird kolportiert, dass er teilweise mehrere Sessions am Abend hatte, indem er bei jedem Orchester einige Stücke dirigierte und dann schnell zum nächsten Orchester eilte um dort gesehen zu werden.
Um hier einige Musikbeispiele zu nennen beginnen wir mit “Esta noche me emborracho” aus der ersten Serie von Aufnahmen im Jahre 1928 mit Carlos Dante als Sänger:
Abgesehen von den Schellack-Artefakten hört man hier einen Tango mit solidem Grundrhythmus gut aufgebautem Gegenspiel von Bandoneones und Violinen und einem etwas farblosen Esribillo von Carlos Dante, alles in allem ein Stück im typischen Stile der Übergangszeit zwischen Guardia Vieja und den Cuarentas mit noch sehr viel Guardia Vieja. Es ist überigens nicht ungewöhnlich, dass D´Arienzo gerade diesen Tango mit dem berühmten Text von Discepolo eingespielt hat, nachdem er am 22.3.1928 von Azucena Maizani uraufgeführt [5] und im gleichen Jahr auch von Gardel gesungen wurde, welcher die Interpretation mit seinem typischen Stil geprägt hat.
Hört man sich das gleiche Stück einmal aus einer späteren Phase (bereits nach Biagi) mit Echagüe als Sänger an, klingt das komplett anders:
Insbesondere hört man hier, dass das Klavierspiel dominanter ist und die Interpretation mehr hin zum staccatoartigen Ton tendiert. Deutlich hört man die kleinen Klavierpassagen zwischen den Phrasen und die legato gespielte Violine zwischendurch über dem stets metronomartigen Rhythmus.
Hier das Stück “Pensalo bien”, mit dem mutmasslich D´Arienzo Biagi vor dem Weggang warnen wollte. Für mich war dieses Lied und die kurze Szene aus Tango Lesson (getanzt meisterlich von Pablo Veron) einer der Momente, die in mir die Liebe zum Tango erweckten:
In dieser Aufnahme hören wir Biagi am Klavier. Ein “9 de Julio” als anderes Beispiel für das Zusammenspiel zwischen D´Arienzo und Biagi hier mit einer der ersten Aufnahmen in dieser Formation. Ich habe hierbei das Gefühl, dass sich Biagi sehr zurückhält aber man schon fühlen kann, dass er an die Oberfläche drängt:
D´Arienzo hat noch weitere Aufnahmen dieses Tangos gemacht, 1950 und 1966, die man ebenfalls auf Youtube finden kann. Ein weiteres Beispiel hier ist “Indiferencia”, hier in der Aufnahme von 1938 mit Echagüe, ein Stück, welches von Biagi komponiert wurde:
Damit ist das Stück natürlich auf den neuen Stil zurechtgeschnitten. Die typischen kleinen Klavierfiguren von Biagi sind gut zu hören.
Mir wurde nach Veröffentlichung dieses Artikels vorgeschlagen mit dem folgenden Titel darzulegen, dass Juan D´Arienzo auch Aufnahmen in etwas weicherem Stil gespielt hat. Ich komme diesem Vorschlag gerne nach. Hier die Aufnahme von Amarras aus dem Jahr 1944 mit Hector Maure:
Als Beispiele für den späteren Stil D´Arienzos hier der Titel “Mi Dolor” gesungen von Osvaldo Ramos, ein Titel mit nur begrenzter Tanzbarkeit, der mich aber lange Zeit rein musikalisch fasziniert hat. Hier getanzt von Frank Obregon und Jenny Gil:
Auf einigen alten Videos aus einer TV-Produktion kann man D´Arienzo in einer Lifeaufnahme sehen. Zunächst hier die Instrumentalversion von Loca, ich möchte hier gerne auf das Violinsolo des Contrecanto hinweisen. D´Arienzo liess diese stets von einem Solisten spielen. Typisch war, dass er diese Passagen von der Violine auf der 4. Saite (“cuarta cuerda”, D-Saite) spielen liess, welche einen volleren (Cello artigen) Klang produzierte. Zeitweise spielte D´Arienzo mit bis zu 10 Violinen im Orchester. Ca. bei Zeitindex 1.50 tritt der Solist vor (wahrscheinlich Bernardo Weber) und spielt das Contrecanto. Pianist ist Juan Polito, als erstes Bandoneon hören wir Carlos Lazzari:
Als weiteres Beispiel für die Integration des Gesangs in das Orchester hier die Aufnahme von “Nada mas” mit Mercedes Serrano als Sängerin die einen für D´Arienzo bereits untypisch langen Part vor dem Orchester singt:
In der Sendung von Chronica TV hier noch weitere Clips mit Juan D´Arienzo und Armando Laborde, Alberto Echagüe sowie Osvaldo Ramos:
Danksagung
Dieser Artikel wurde im Forum www.tanzmitmir.at diskutiert. Für ihre Hilfe bedanke ich mich bei: Cassiel, Solotango und Tango-Vifzack
Literatur:
1 https://de.wikipedia.org/wiki/Rhythmus_(Musik)
2 http://www.todotango.com/english/artists/biography/32/Juan-DArienzo/
3 Salas H: Der Tango. Abrazos Books, 2002. p. 292
4 https://www.el-recodo.com/juandarienzo-en?lang=en
5 https://es.wikipedia.org/wiki/Esta_noche_me_emborracho
6 https://elespejero.wordpress.com/2015/06/22/tango-stories-pensalo-bien/
7 https://www.el-recodo.com/music?O=Juan%20D%27ARIENZO&lang=en
8 http://www.todotango.com/english/history/chronicle/522/Orquesta-Tipica-Juan-DArienzo/
9 http://www.todotango.com/english/history/chronicle/286/Biagi-Interview-to-Rodolfo-Biagi-in-1960/
10 http://www.todotango.com/english/history/chronicle/4/DArienzo-Tango-has-three-things/
11 https://tango.info/JuanaDarie
12 http://www.totango.net/DArienzo-Biagi-export.html