The educated Tanguero

Essential Tango Knowledge

Moderne Tangos im Stil alter Meister der Cuarentas

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In der Post-EDO Zeit haben sich die Interpretationsformen der Tango Orchester signifikant geändert. Die Orchester wurden kleiner, spielten nicht mehr primär für Tänzer und weiteten ihre Möglichkeiten zu einem breiteren Spektrum von Dynamik und emotionaler Dynamik noch einmal aus. Neue Komponisten (z.B. Piazzolla) forderten diese Flexibilität und darüberhinaus ein neues Niveau von instrumenteller Virtuosität. Es entstand so eine neue Generation von Tango Orchestern, die versuchten klassischen Kompositionen ein neues akustisches Gesicht zu geben. Insbesondere in den späten Jahren des 20. Jahrhunderts und im 21. Jahrhundert fanden sich diese Orchester aber in einer schwierigen Lage. Einerseits mussten sie das Handwerkszeug einer modernen Interpretationsweise erlernen, andererseits wurden die Orchester mit der Renaissance des Tango wieder gerne auf die Milongas eingeladen und tanzbare Musik wurde wieder zu einem Faktor für das wirtschaftliche Überleben der Orchester.

Es entstand damit eine Palette von Orchestern von einem Ende mit dem musikalisch hochmodernen Tango aber kaum tanzbarer Musik (z.B. OT Fernandez Fierro) zu Orchestern, die versuchten primär oder auch sekundär nach der Art der alten Meister der 40er tanzbare Musik zu präsentieren (als Beispiel hierfür sei nur das Sexteto Milonguero angefügt). In den 40ern und 50ern haben die großen Orchester stilistisch ihre Pflöcke eingeschlagen und damit den die Interpretation der Tangos wegweisend geprägt. Mit manchen Kompositionen ist dadurch beim Rezipienten (Tanguero, Milonguero) eine Erwartung an den Stil programmiert worden. Neue Kompositionen bleiben daher an einen bestimmten Interpretationsstil gebunden. Als Beispiel hier die Stücke La Yumba (Osvaldo Pugliese), Loca (Juan D´Arienzo) und Bahia Blanca (Carlos di Sarli). Loca ist hier etwas herausragend, weil es im Jahr 1922 von Manuel Joves komponiert, bis in die Zeit der EDO vielfach interpretiert wurde, z.B. von Donato Racciatti, Francisco Canaro, OTV und Carlos Gardel, Piazzolla und De Angelis, aber zuletzt Juan D´Arienzo mit seiner ultrarhytmischen Version das Interpretationsbild von Loca geprägt hat.

Moderne Musiker und Orchester haben heutzutage ein großes Lernpensum zu absolvieren, müssen sie doch in der Lage sein, die musikalischen Stilelemente der großen EDO Orchester zu beherrschen und zu reproduzieren, insbesondere, wenn sie Stücke in ihr Repertoir aufnehmen, die interpretatorisch bereits definiert sind. So wundert es auch nicht, wenn moderne Orchester im Stile der großen Meister generell, ganze Alben oder einzelne Stücke einspielen.

Als DJ ist es hier sehr verführerisch, mit diesen alternativen Interpretationen zu spielen. Neuinterpretationen, die kaum vom Original von Di Sarli zu unterscheiden sind, Stücke, die von ungeschulten Ohren sofort als D´Arienzo verortet werden und Stücke, die noch aggressiver klingen als die Originale von Pugliese? Kein Problem. Ich werde diese Beispiele weiter unten gerne etwas ausführen. Die vielen Orchester, die sich der Musik von Piazzolla verschrieben haben würde ich gerne an dieser Stelle ausklammern, da sie auf Milongas (und für den DJ) so gut wie keine Rolle spielen.

 

1. Osvaldo Pugliese

Beginnen wir mit Osvaldo Pugliese. Der Titel, mit welchem er seinen eigenen Stil der Welt vorstellte ist “La Yumba”.
Hier eine seiner Aufnahmen:

Der Titel ist eine Lautmalerei die sich auf den Rhythmus bezieht. Die Verwendung dieses signifikanten Rhythmus Yum-Ba-Yum-Ba zusammen mit ausgeprägten Rubato Passagen ist typisch für die Musik von Pugliese, der Stil wurde von Ihm zwischen 1946 und dem legendären Auftritt im Teatro Colon in 1985 verfeinert.

Einzelne seiner Musiker, darunter der Bandoneonist Roberto Alvarez (zusammen mit Victor Lavallen und Juan Carlos Zunnini) verliessen sein Orchester in 1989 um das Orchester Color Tango zu gründen [1]. Diese Formation spielte im Stil von Pugliese und konnte den typischen Stil weiter entwickeln. Hier die Version von “La Yumba” von Color Tango:

Für Tango DJs ist es jetzt sehr verführerisch, eine Tanda mit Titeln von Color Tango zu spielen. Eine Strategie die ich gerne verwende ist vorneweg (nicht direkt) eine Tanda von moderaten Tangos von Pugliese zu spielen und die starken Rubato-Titel dann später Color Tango zu überlassen.

Eine meiner Tandas hierfür ist:

Pata Ancha
Nochero Soy
La Yumba
A Evarista Carriego

alle von Color Tango aus dem Jahr 2007.

 

2. Carlos Di Sarli

Zu den beliebtesten Tangos gehören sicherlich die Stücke von Carlos Di Sarli. Zwischen den Anfängen (Sexteto di Sarli) und den späten sehr dramatischen Titeln hat Di Sarli mehrfach seinen Stil gewechselt und dies auch durch die Wahl seiner Sänger unterstrichen.

Einer seiner typischen Titel aus dem Jahr 1948 ist der Tango “La Racha” den wir hier in der Originalversion hören:

Das Orquesta Tipica Gente de Tango unter Guillermo Durante (Klavier) hat eine CD mit dem Titel “Al Estilo Di Sarli” herausgegeben und spielt den Sound des Altmeisters erfolgreich nach [2]. Das Ergebnis für den obigen Titel hier:

Auch hier können wir als DJ eine Tanda von Di Sarli mühelos mit einer solchen von OT Gente de Tango substituieren, z.B. um ohne Gewissensbisse mehrere Tandas von Di Sarli-Musik in einer Milonga unterzubringen.

 

3. Juan D´Arienzo

Schauen wir weg von den mehr dramatischen Stücken auf die rhythmische Kategorie. Juan D´Arienzo ist hier der ungeschlagene Meister. Einer der seltener gespielten Tangos (unverdient) hier der Titel “El Puntazo”, getanzt von Esref Tekinalp & Vanessa Gauch Arabacioglu (mit – nebenbei bemerkt – einer bemerkenswerten Choreografie):

Der gleiche Titel hier interpretiert von Sexteto Visceral [3]:

Andere Orchester, die im Stil von D´Arienzo spielen sind das Hyperion Ensemble, Solo Tango, Los Solistas de D´Arienzo und Los Reyes del Tango. Insbesondere das russische Orchester Solo Tango [4] um Pavel Ratynski (Bandoneon) und Artem Timin (Klavier) spielt absichtlich traditionelle Versionen im Stil alter Meister (D´Arienzo, Pugliese, Canaro und natürlich Piazzolla). Hier nur zum Vergleich die Version von “El Puntazo” im Stil von D´Arienzo:

 

Wem das noch nicht genug nach D´Arienzo klingt, möge einmal in “El Huracan” hineinhören (ebenfalls von Solo Tango):

 

Von Solo Tango ist es hierbei nicht weiter schwer, eine Tanda zusammenzustellen:

El Puntazo
Felicia
Este es el Rey
El Huracan

alle von Solo Tango. Bis auf Felicia (Historias de Tango 3, 2015) alle auf “Historias de Tango 2” (2012).

Ein anderes Orchester, welches den Stil von D´Arienzo noch besser umsetzt ist das Orchester La Juan D´Arienzo welches ja auch den Namen des Meisters trägt. Mit 4 Bandoneones ist das Orchester auch ungewöhnlich stark besetzt und kann dadurch den Sound viel leichter umsetzen.

Hier zunächst das Original “Loca” von Juan D´Arienzo life gespielt (mit 5 Bandoneones):

 

 

Zum Vergleich die Lifeaufnahme von La Juan D´Arienzo aus dem September 2015 gespielt auf dem Festival in Tampere:

 

 

4. Francisco Canaro

Der Stil von Francisco Canaro ist variabel zwischen rhythmisch/bodenständig und romantisch/klar bis verspielt. Man verzeihe mir hier die etwas starke Vereinfachung. Zu den mehr romantischen Stücken zählen die Lieder Invierno und Poema, welche sicherlich zu den Top-Hits auf den Milongas dieser Welt zählen.

Hier die Aufnahme von “Invierno” von Francisco Canaro mit Roberto Maida als Sänger aus dem Jahr 1937:

 

Zum Kontrast hier die Neuinterpretation von “Invierno” von Solo Tango aus 2015:

 

 

“Poema” ebenfalls gesungen von Roberto Maida aus 1935 ist eines der am meisten gespielten Stücke. Es wundert daher nicht, dass es hier einige Neuinterpretationen gibt. Hier die Version von Orquesta Romantica Milonguera gesungen von Marisol Martinez (auf der CD Todo es Amor):

 

 

5. Osvaldo Fresedo

Der frühe romantische Stil von Osvaldo Fresedo hat viele andere Orchester inspiriert. Eines der bekanntesten Stücke ist Buscandote, welches wir hier in der Originalinterpretation mit Ricardo Ruiz hören:

Ebenfalls von Solo Tango hier eine instrumentale Neuinterpretation im gleichen Stil, hier wiederum getanzt von E.Tekinalp und V.Gauch Arabacioglu :

 

 

6. Miguel Calo

Da wir nun bei den etwas weicheren Interpretationen sind, hier als Beispiel “Inspiration” von Miguel Calo:

Dann die Neueinspielung von Orquesta Tipica Sans Souci (deren Name ist nebenbei bemerkt einer der bekannteren Titel von Calo) [5]:

 

7. Fulvio Salamanca

Salamanca wird normalerweise als Post-EDO Orchester klassifiziert und ist demnach nicht so häufig auf Milongas zu hören. Zu den bekannteren Titeln gehört das stark romantische Lied “Todo es amor”, hier im Original mit Armando Guerrico:

 

Hier die Neueinspielung von Orquesta Romantica Milonguera mit Roberto Minondi:

 

 

8. Ricardo Tanturi

Hören wir zunächst im Original den Titel “Una noche de garufa”

 

Hier die Neuversion des Orquesta Tipica Tanturi die wiederum den Namen ihres Vorbilds im Titel tragen:

 

 

9. Anibal Troilo

Anibal Troilo mit dem Spitznamen “Pichuco” und seinem unverwechselbaren Stil “Sonido Troilo” hören wir hier mit dem Titel “Como se pianta la vida” zusammen mit Roberto Goyeneche aus dem Jahr 1963:

 

 

Hier die Neueinspielung des Orquesta Tipica Pichuco mit dem Sänger Hernan Castiello. Das Orchester trägt damit ebenfalls den Namen des Vorbilds.

 

 

 

 

 

Zusammenfassend also hier die Hauptgründe, warum wir Neuinterpretationen im bekannten Stil hören:

1. Musiker eines der großen Orchester haben sich davon getrennt und eigene Gruppen gebildet, mit dem Ziel den Stil des alten Orchesters weiter zu entwickeln. Manchmal hatten sie sogar geradezu die Aufgabe, dies zu tun (Beispiel: Julio de Caro hatte 1923 alle Arrangements von Cobian geerbt).

2. Moderne Orchester haben sich absichtlich entschlossen, im Stil eines Vorbilds zu spielen und richten ihr Repertoir gezielt daraufhin aus.

3. Moderne Orchester spielen Titel, die sehr stark auf eine bestimmte Interpretationsweise determiniert sind und bleiben in Ihrer Interpretation dann auch extrem werk- und stilbezogen. So kann es sein, dass manche Orchester mehrere klassische Stile beherrschen.

 

Die Frage zum Abschluss bleibt, wann ein DJ solche Parallelinterpretationen spielen sollte. Eigentlich immer in einem gewissen Maße um etwas neue Spannung in eine Milonga zu bringen. Dies sollte dann passieren, wenn die Gefahr nicht besteht, das Publikum mit ungewohnten Tönen zu verwirren, es liegt also wie oft am Geschmack des DJ und der Situation. Viel Spass,

 

-Richard (DJ Ricardo)

 

 

Danksagung

Die Inhalte dieses Artikels wurden auf dem österreichischen Forum Tanzmitmir.net diskutiert. Ich bedanke mich bei folgenden Mitdiskutanten, die mit ihrem fachlichen Wissen inhaltlich zu diesem Beitrag beigetragen haben: “wko“, “Tango Vifzack

 

 

Literatur

1     http://www.todotango.com/english/history/chronicle/511/Confessions-by-Roberto-alvarez-in-Medellin/

2     https://es-la.facebook.com/orquesta.gentedetango

3     https://www.facebook.com/sextetovisceral/

4     http://stango.ru/english/

5     https://www.facebook.com/tipicasanssouci/

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